Für eine Reformulierung des soziologischen Fortschrittsbegriffs
Ein Interview mit Peter Wagner, geführt von Sarah Lenz und Iris Hilbrich am 08.01.2020
Wie ist gesellschaftlicher Fortschritt denkbar, wenn sich Gesellschaften an der Leitidee der Nachhaltigkeit ausrichten? Steht die Soziologie in Zeiten sozialer und ökologischer Krisenszenarien vor einer besonderen Herausforderung, Gegenwartsdiagnosen zu erstellen? Diese und weitere Fragen konnten die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen des Kollegs, Sarah Lenz und Iris Hilbrich, mit unserem Fellow Professor Peter Wagner (Barcelona) diskutieren. Peter Wagner befasst sich als Soziologe vielfach mit Grundfragen gesellschaftlichen Wandels aus globalisierungstheoretischer und historisch vergleichender Perspektive. Seine Schriften zu Moderne und Modernisierung werden weltweit rezipiert.
KFG: Peter, vielen Dank, dass du dich kurz vor deiner Abreise nochmal dazu bereit erklärt hast, mit uns ein Interview zu führen. Du hast dich ja mit einer Vielzahl von Themen beschäftigt – uns würde aber zunächst interessieren: Wie würdest du den Weg beschreiben, der dich zum Thema Nachhaltigkeit und zu uns, der Kolleg-Forschungsgruppe „Zukünfte der Nachhaltigkeit“ geführt hat?
Peter Wagner: Zu meiner Beschäftigung mit Nachhaltigkeit muss ich gestehen, dass das Thema keines ist, mit dem ich mich spontan beschäftigt hätte. Das hat damit zu tun, dass Nachhaltigkeit zunächst einmal ein Begriff ist, der in politischen und öffentlichen Diskursen verwendet wird, dessen Tragfähigkeit man aber erst einmal prüfen muss. Darüber hinaus muss man auch prüfen, inwiefern der Begriff für die intellektuelle und sozialwissenschaftliche Debatte analytisch tauglich ist. Aber das ist ja ein Ziel eures Kollegs, was ich sehr interessant finde.
Nichtsdestotrotz habe ich mich seit langem mit ökologischen Problemstellungen beschäftigt. Eine Grundannahme war dabei immer – und das habe ich bereits in meiner Studienzeit in den 1970er Jahren gelernt – dass ökologische Problematiken zentral für unsere und globale Gesellschaften im Allgemeinen sind. Und seitdem habe ich mich – mal stärker und mal weniger stark – mit ökologischen Problematiken und Thematiken auseinandergesetzt. Letztlich zeigt sich bereits hier die Entstehung und die Entwicklungen dieses Diskurses um Nachhaltigkeit, mit dem wir derzeit konfrontiert sind: Angesicht der größer werdenden Dringlichkeit ökologischer Problematiken und der Frage, wie diese Dringlichkeit mit der Lebensweise, dem Lebensstil sogenannter fortgeschrittener Gesellschaften, vereinbar ist. Insofern, so reformuliert war Nachhaltigkeit für mich schon immer zentral, allerdings braucht es diese Reformulierung.
KFG: Hat sich denn deine Perspektive auf die Dimension der ökologischen Nachhaltigkeit im Laufe deines Lebens und deiner Forschungstätigkeit geändert? Wenn ja, wie?
Peter Wagner: Zunächst bin ich auf die ökologische Problematik aus dem sehr grundlegendem Interesse an den Möglichkeiten für positiven – progressiven, wenn man so will – sozialen Wandel gestoßen. Diese Fragen könnte man auch unabhängig von der ökologischen Problematik betrachten. Im Zusammenhang mit Energie und Atomkraft habe ich dann aber gesehen, dass auch die ökologische Problematik eine Problematik ist, die unumgänglich ist, wenn man sich für größere soziale Umbrüche in der Gegenwart interessiert.
KFG: Da stellt sich eine interessante Frage, über die wir auch im Kolleg bereits länger diskutiert haben, nach dem Verhältnis zwischen Fortschritt, also einem deiner Forschungsthemen, und Nachhaltigkeit. Vielleicht könnte man es auch zugespitzt so formulieren: Stehen nicht eigentlich die Debatten um Nachhaltigkeit oder auch die Programme und das Tun um Nachhaltigkeit und die verheerenden Auswirkungen des Klimawandels einem gesellschaftlichen Fortschritt grundsätzlich entgegen?
Peter Wagner: Also ich denke, dass sich in unseren Gesellschaften lange ein Fortschrittsbegriff entwickelt und durchgesetzt hat, dem die Unendlichkeit im Allgemeinen und die Unendlichkeit natürlicher Ressourcen im Speziellen zugrunde liegt. Das hat nicht nur Auswirkungen auf den nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen, sondern auch den praktischen Umgang mit Zeit als einer Unendlichkeit vorhandener Zeitressourcen. Dieser Fortschrittsbegriff, in dessen Rahmen sich Gesellschaften ständig weiterentwickeln können und höhere Niveaus auf allen Ebenen (Wirtschaftswachstum, Lebensqualität) erreichen können, prägt uns nun schon seit fast zwei Jahrhunderten. Und der steht natürlich ziemlich deutlich im Gegensatz zu dem, was wir heute unter Nachhaltigkeit verstehen. Und darüber hinaus ist die ökologische Problematik sicherlich eine Folge der praktischen Anwendung dieses Fortschrittsbegriffs über die letzten zweihundert Jahre - und in beschleunigter Form des letzten halben Jahrhunderts. Die Forderung nach Nachhaltigkeit kann dann als Reaktion auf konstitutive Nebenfolgen dieses Fortschrittsbegriffs betrachtet werden.
Nun, das heißt nicht, dass man sich deswegen grundsätzlich von einem Fortschrittsbegriff verabschieden müsste. Zum einen hat der historische Fortschrittsbegriff ja nicht nur diese nachhaltigkeitsfeindliche Komponente, sondern auch eine soziopolitische Komponente, die auf den ersten Blick jedenfalls nachhaltigkeitsneutral ist. Diese ist mit Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung verbunden. Aber hier zeigt sich eine historische Entwicklung, in der auch diese Idee von Freiheit und Selbstverwirklichung zu einer ressourcenintensiven Angelegenheit in dem Sinne geworden ist wie wir heutige Gesellschaften als Konsumgesellschaften verstehen.
Ein reformulierter Fortschrittsbegriff für unsere Zeit müsste wohl da beginnen, wo ein Verständnis von Freiheit und Selbstbestimmung intensiviert und entkoppelt wird von dem Gedanken, dass man freier und selbstbestimmter ist, wenn man mehr Ressourcen verbraucht. Ich bin davon überzeugt, dass das prinzipiell möglich ist. Zudem ist dieser Perspektivwechsel notwendig für ein neues soziopolitisches Fortschrittsverständnis, das wiederum einhergehen müsste mit einer radikaleren Reformulierung des materiellen Fortschrittverständnisses als demjenigen, der tatsächlich und konstitutiv als ressourcenintensiv verstanden worden ist.

KFG: Und das spricht ja auch die Tatsache an, die wir bereits mit dir diskutieren durften, dass sozialer Wandel auch immer einen begrifflichen Wandel braucht und bedingt. Da schließt sich gewissermaßen die Frage an, ob die Klimakrise nicht eine Krise wie jede andere ist, so könnte eine Position lauten. Die Gegenposition ist, dass diese Krise eben nicht wie jede andere ist und dass auch die Soziologie angehalten ist Begriffe, Konzepte, Theorien neu zu konzipieren, um die Klimakrise angemessen erklären und verstehen zu können. Wie siehst du das?
Peter Wagner: Es ist sicherlich eine größere Krise und unter größeren Krisen ist keine wie jede andere. Ich denke, sie sind alle spezifisch und haben besondere Charakteristika. Ich sollte vielleicht vorausschicken, dass ich auch in unseren zurückliegenden Diskussionen vorsichtiger sein würde hinsichtlich eines apokalyptischen Zugangs zu dieser Krise. Zum einen, weil eine apokalyptische Sichtweise oft nicht hilfreich für die Schaffung von Handlungsfähigkeiten ist; zum anderen ist diese Sichtweise vielleicht auch grundsätzlich nicht angemessen. Hier ist sicherlich der Vergleich zur atomaren Bedrohung hilfreich, die vor ein paar Jahrzehnten sehr viel stärker im Vordergrund stand als die ökologische Problematik. Und diese Bedrohung durch einen möglichen Atomkrieg hatte tatsächlich etwas Apokalyptisches. Wäre es im Kalten Krieg der Atommächte zu einer atomaren Auseinandersetzung gekommen, hätte das tatsächlich apokalyptische Folgen für einen Großteil des Globus gehabt. Ohne die Bedeutung der Klimakrise abschwächen zu wollen, sind diese beiden Krisen dennoch nicht von derselben Natur. Dieser Unterschied besteht nicht darin, dass die Klimakrise weniger gravierend ist – im Gegenteil; im Unterschied zur Atombombe zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie sich allmählich vollzieht, dass wir gewissermaßen in ihr leben.
Und das macht es auf der einen Seite schwieriger, damit umzugehen, weil die Notwendigkeit, etwas zu tun – oder etwas zu unterlassen, wie im Beispiel des Atomkriegs – schwerer vermittelbar ist. Also in gewisser Weise ist es ja ein Wunder, dass es nicht zum Atomkrieg gekommen ist. Aber das hat damit zu tun, dass letztlich allen Beteiligten klar war, dass das um jeden Preis vermieden werden muss. Und beim Klimawandel ist das nicht der Fall, was man ja genau an den Nachhaltigkeitsdiskussionen sieht, wie wir sie hier führen. Manche sind davon überzeugt, dass sich alles radikal ändern müsste, aber da gibt es durchaus ein ganzes Spektrum von anderen sinnvollen Auffassungen, über die man sicher weiter debattieren kann. Beim Atomkrieg war das nicht so. Da ist es eine Ja-Nein-Frage gewesen und ist immer noch eine Ja-Nein-Frage.
Und insofern ist diese Krise anderer Natur, sie ist spezifischer Natur. Sie hat die gleiche planetare Dimension wie die Atomkriegsbedrohung, ist aber von ihrem Ablauf her sehr unterschiedlich, denke ich. Dies bedeutet auch, dass sich die Frage der Begrifflichkeit anders stellt. Für den Atomkrieg – ich bleibe mal ein bisschen bei dem Beispiel, weil es, glaube ich, hilfreich ist – ist die Notwendigkeit einer neuen Begrifflichkeit nicht so leicht zu sehen. Es ist mehr oder weniger nur die Frage, etwas zu tun oder zu lassen. Und die Frage, wie man die politischen, ökonomischen, sozialen Konstellationen im Kalten Krieg untersucht, ist relativ unabhängig davon. Bei dem Klimawandel ist das Gegenteil der Fall. Um damit umgehen zu können, braucht man eine Analyse praktisch aller Aspekte unserer Gegenwartsgesellschaften, weil es nur wenige gibt, die wirklich nichts damit zu tun haben. Und das ist ja auch die Frage der ganzen Breite der Diskussion. Sind wir als Konsumenten die entscheidenden Akteure, sind das Staaten, sind das überstaatliche Organisationen, ist es der Norden oder eher der Süden? All diese Aspekte hängen miteinander zusammen.
KFG: Welche Bedeutung hat das denn für unsere Begrifflichkeiten und Konzepte der Soziologie?
Das hat durchaus eine wichtige Bedeutung für die Soziologie. Ich denke, dass sozialwissenschaftliche Begrifflichkeiten einer sehr viel stärkeren Prüfung unterzogen werden müssen und gefragt werden muss, wie weit die Begriffe, mit denen wir bisher umgegangen sind, noch tragfähig sind. Und das, was wir gerade eben über den Fortschritt gesagt haben, ist, denke ich, ein Beispiel dafür, dass auch solche klassischen sozialwissenschaftlichen Begriffe wie Freiheit, Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung von dieser Krise berührt werden.
KFG: Das erschwert eine aktuelle Gegenwartsdiagnose, insbesondere, wenn im Kontext des Klimawandels auch nicht-menschliche Akteure wie der Regenwald oder die australischen Koala-Bären mitgedacht werden müssen. Was macht eine Gegenwartsdiagnose in dieser Gegenwart des Klimawandels, im Kontext dieser Klimakrise möglich aus deiner Perspektive bzw. ist sie überhaupt möglich?
Peter Wagner: Also sie muss möglich sein. Das ist sozusagen die Annahme, von der ich zunächst mal ausgehe. Gleichzeitig ist sie unglaublich schwierig. Ich glaube, dass wir in den Sozialwissenschaften relativ weit davon entfernt sind, eine gute Gegenwartsdiagnose entwickelt zu haben. Wenn man da zurückgeht könnte man ja sagen, dass die Untersuchung national verfasster Gesellschaften die letzte halbwegs tragfähige Gegenwartsdiagnose war, die die Sozialwissenschaften aufzubieten hatten. In diesem Rahmen konnte die Soziologie ihren Gesellschaftsbegriff anwenden und gleichzeitig in Kooperation mit der Politikwissenschaft und der Wirtschaftswissenschaft eine institutionelle Analyse vorlegen. Für derart verfasste nördliche Gesellschaften der 1950er, 1960er Jahre war das tragfähig und angemessen. Andere Gesellschaften wie die der Sowjetunion oder China allerdings konnten mit solchen Analysen schon weniger erfasst werden. Ganz zu schweigen von solchen Gesellschaften, die diesen Grad an relativ solider Verfasstheit nicht aufwiesen oder aufweisen. Hierzu zählen dann fast alle Gesellschaften aus dem – wie man es heute nennt – globalen Süden. Obwohl diese im Nordwesten entwickelte Gesellschaftsanalyse auf solche Gesellschaften nie zutraf, wurde sie dennoch auf sie angewandt. Das war und ist ein enormes Problem.
Aber nichtsdestotrotz war das der Moment, in dem die Sozialwissenschaften am nächsten dran waren, eine gute Gegenwartsanalyse zu entwickeln. Der nachfolgende Diskurs von Globalisierung und Individualisierung hat demgegenüber nicht mehr konstatiert als das Aufbrechen dieser verfassten Formen von Gesellschaften. Und dies sicherlich zutreffend, aber gleichzeitig wurde keine neue, in meinem Sinne tragfähige, Gesellschaftsanalyse entwickelt. Denn das Bild zweier ablaufender Prozesse, sprich Globalisierung und Individualisierung, suggeriert letztlich, dass deren Vollendung zu einer Situation führte, in der Individuen isoliert sind und unterhalb des Globalen keine strukturierten Beziehungen mehr zu anderen haben. Und das trifft weder heute zu noch wird es in absehbarer Zeit zutreffen.
Ähnliche Probleme zeigen sich auch bei anderen „Trendbegriffen“ wie sie in der Soziologie verwendet werden wie etwa Demokratisierung, Säkularisierung, Rationalisierung. Auch hier wird behauptet, es gäbe solche durchschlagenden Trends. Und ich glaube, dass das nicht der Fall ist. Ein weitgehender Konsens ist ja, dass die Doppeltheorie von Individualisierung und Globalisierung nicht zutrifft. Dennoch wurde eine neue Gesellschaftsanalyse und die korrespondierende Begrifflichkeit bisher nur fragmenthaft entwickelt. Das heißt, die Aufgabe steht noch vor uns.
KFG: Du hast uns im Rahmen unserer Abschlussdiskussion noch Einblick in dein neues Forschungsprojekt gegeben, in dem du die Analyse sozialen Wandels mit deinen eigenen Lebenserfahrungen konfrontieren möchtest. Könntest du das nochmal etwas näher ausführen?
Peter Wagner: Ja, ich sehe das als einen Versuch. Der Gedanke ist dabei – und das verbindet sich mit den Arbeiten, die ich ohnehin in den letzten Jahren gemacht habe – den sozialen Wandel im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts zu analysieren. Die Annahme dahinter ist, dass sich in diesem letzten halben Jahrhundert ein derartiger größerer sozialer Umbruch vollzogen hat. Um die gegenwärtige Situation besser zu verstehen, brauchen wir neue Begriffe.
Vor dem Hintergrund meiner gesellschaftstheoretischen und historisch vergleichenden Arbeiten bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es bei der Arbeit an der Begriffsentwicklung nützlich ist, die eigene Lebenserfahrung einzubeziehen. Der Vorteil hierbei ist, dass dieses letzte halbe Jahrhundert sich mit meinem eigenen Lebenslauf überschneidet. Der Gedanke ist also, über die Reflexion der eigenen und persönlichen Wandelerfahrung zu einem umfassenderen Verständnis dieser Periode beizutragen. Das heißt, Momente, in denen der Habitus, den man sich angeeignet hat, auf eine Situation trifft, für die er nicht mehr völlig geeignet ist. Und das ist ja für Bourdieu letztlich der Hauptgrund für sozialen Wandel. Um zu prüfen, ob diese persönliche Erfahrungen tatsächlich etwas Gesamtgesellschaftliches ausdrücken, sollten diese selbstverständlich mit anderen Formen von Evidenz konfrontiert werden. Das können auch die persönlichen Erfahrungen anderer sein, aber auch klassische Dokumenten- oder Archivanalysen.
KFG: Kannst du Beispiele oder Ereignisse nennen, an denen die persönlichen Erfahrungen mit historischen gesellschaftlichen Umbrüchen zusammenfallen?
Peter Wagner: Es gibt für mich Wahrnehmungen. Ich nenne vielleicht eine Reihe. Zunächst teilten damals in den 1970ern eine große Anzahl junger Menschen ein Selbstverständnis, das auf eine notwendige gesellschaftliche Veränderung ausgerichtet war, d.h. sie verstanden sich im weitesten Sinne als links oder als sozialistisch. Eine dieser Situationen, wo es hakte, war die Konfrontation mit einem eher ökologischen Aktivismus. Ich musste damals einsehen, dass dort etwas thematisiert wurde, was ich selbst und vor dem Hintergrund einer linken Orientierung bis dahin nicht im Blick hatte. Anders gesagt: mein Habitus war auf diesen Aktivismus und auf diese Themen nicht vorbereitet.
Eine andere Wahrnehmung ist jene, dass andere Personen, die sich in einer mir vertrauten Weise für die Verbesserung der Welt im Großen und Ganzen engagiert haben, nun ganz andere Akzente gesetzt haben, nämlich individuelle Akzente. Und damit meine ich nicht bezogen auf ihr eigenes Leben, sondern im Hinblick auf einzelne Personen, nicht auf die Gesellschaft; konkret: Anderen Menschen zu helfen. In diesem Fall insbesondere Folteropfern durch das Engagement bei Amnesty International. Das war für mich eine Erfahrung, wo etwas hakte. Insbesondere, weil der Grundgedanke und Notwendigkeit, etwas zur Verbesserung der Welt beizutragen, mir selbst ja bestens vertraut war. Ich konnte auch ohne Weiteres sehen, warum das sinnvoll ist. Gleichzeitig wurde diese andere Akzentuierung meinen Ansprüchen nach Gesellschaftsveränderung nicht völlig gerecht. Diese bezogen sich viel mehr auf etwas Umfassenderes, ein gesellschaftsveränderndes Projekt, nicht darauf, einzelnen Menschen zu helfen.
Ein drittes Element hängt mit einer Veränderung in der Gesellschaft zusammen, die man eher als Kulturwandel beschreiben könnte, wenn etwa einzelne Menschen aus ihren unterschiedlichen aber wohldefinierten Gruppen, Klassen oder religiösen Gemeinschaften gewissermaßen austreten. Klassische Soziolog_innen würden dies als Individualisierung beschreiben. Noch in den 1960er Jahren hätten viele – wie ich auch – sich selber leicht als Teil einer Gruppe in irgendeiner Art beschreiben können. Seit den 1970er und stärker dann noch seit den 1980er Jahren, verstehen sich Personen viel häufiger als Individuen, die sich in vielfältiger Art zu anderen Personen und anderen Personengruppen verhalten können; sie sind nur in einem relativen Sinne Teil von Gruppen. Und das ist auch etwas, was ich auch heute noch als Brucherfahrung wahrnehme, auch, wenn ich mit anderen darüber spreche. Und diese anhaltende Erfahrung ist auf längere Sicht sicher Teil eines größeren sozialen Wandels.
KFG: Derzeit arbeitest du ja auch noch an einem anderen Vorhaben. Ein Projekt, dass sich mit historischem Unrecht beschäftigt?
Dieses Forschungsinteresse ist tatsächlich direkter auf ökologische und soziale Nachhaltigkeit bezogen. Der Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass sich bereits in den 1990ern eine Entwertung der Vergangenheit vollzogen hat. Ich möchte das kurz erläutern: Einerseits verstärkt sich in den 1990ern der individuelle Globalisierungsdiskurs wie ich ihn eben schon erläutert habe, andererseits finden wir in dieser Zeit eine politisch institutionelle Situation vor, in der die Welt im Wesentlichen aus unabhängigen, formal gleichberechtigten Staaten besteht – Kolonien gibt es kaum noch. Und gleichzeitig sind die Mitlieder dieser Gesellschaften in den meisten Fällen Individuen mit gleichen Rechten. Das ist nicht überall der Fall, aber recht weitgehend. Die Rechte sind unterschiedlich, aber in den meisten Fällen sind sie gleich für alle Mitglieder. Das heißt, viele Debatten bis hin zum Klimawandel finden vor diesem Hintergrund und der Annahme der formalen Gleichheit statt.
Nun, wie aber betrachten wir bestehende Ungleichheit in einer Situation formaler Gleichheit? Ein Schlüssel besteht für mich darin, bestehende Ungleichheiten nur vor dem Hintergrund historischer Ungleichheiten zu verstehen. Ein Beispiel: Wenn Frauen heute formal gleichberechtigt sind, aber trotzdem Ungleichheitserfahrungen machen, dann hat das damit zu tun, dass die historische Ungleichheit weiterhin in der Gegenwart wirksam ist und beispielsweise in Interaktionen wirksam wird. Es braucht also ein Instrumentarium, mit dem man solche Situationen historischen Unrechts zum einen begrifflich thematisierbar machen und zum anderen handhabbar machen kann. Das ermöglicht es, plausible Vorschläge zur Überwindung gegenwärtiger Ungleichheitssituationen zu entwickeln.
Ein solcher Versuch, historische Asymmetrien zwischen Gesellschaften und Menschen mit einzubeziehen, dokumentiert sich bereits im Pariser Abkommen, wenn von „gemeinsamer, aber differenzierter Verantwortlichkeit“ die Rede ist. Das ist sicherlich ein bescheidener und noch ein bisschen vager Versuch, aber das ist ein Schritt in diese Richtung. Zudem will ich verstehen, wie es zu dieser Enthistorisierung und Entkollektivierung gekommen ist. Eine problematische Konsequenz ist nämlich, dass lediglich Einzelne statt Kollektive verantwortlich gemacht werden. In Deutschland wäre die Namibia-Diskussion, der Genozid an den Herero, ein Beispiel dafür.
KFG: Und haben wir das richtig verstanden, dass du mit diesem Projekt, das auf individuelle Erfahrbarkeit gesellschaftlichen Wandels abzielt, auch einen starken politischen Anspruch oder einen Anwendungsbezug verbindest?
Peter Wagner: Das geht ja zurück auf die Frage nach der Öffentlichkeit. Ja, ich denke wir leben heute in der Situation, wo diese Problematiken bekannt sind, weil jeder wissen könnte, dass es global gesehen erhebliche Probleme ökologischer und sozialer Gerechtigkeit gibt. Aber zugleich sind diese Problematiken für die gesellschaftliche Verständigung nicht richtig handhabbar. Zum einen wird auf eine moralische Komponente verwiesen in dem Sinne, dass wir etwas tun sollten. Hier sehe ich wieder das Problem der Individualisierung. Ebenso gut können wir doch für Brot für die Welt spenden oder Menschen, die über das Mittelmeer flüchten, helfen.
Zum anderen ist die Thematisierbarkeit begrenzt, weil die globale Perspektive fehlt. Das heißt soziale und ökologische Gerechtigkeit werden vor dem Hintergrund der Annahme diskutiert, dass lediglich demokratische Staaten legitime Akteure sind. Und diese Staaten sehen sich nur ihren eigenen Bürgern – mal stärker und mal schwächer – gegenüber verantwortlich und solidarisch. Aber Staaten sind unfähig, Konzepte zu entwickeln, die darüber hinausgehen. Das sieht man selbst innerhalb Europas beispielsweise im Kontext der griechischen Finanzkrise: Eine über die Nation hinausgehende Solidarität ist hier kaum denkbar.
Ich will nicht sagen, dass es nicht thematisiert würde, aber es gibt diese Elemente, die nicht zusammengefügt werden können zu einem gemeinsamen Verständnis. Und die Hoffnung wäre, eine Argumentation zu entwickeln, die auch die Skeptiker überzeugen könnte, dass es so eine Art von globaler Verpflichtung gibt und geben könnte. Weil schlicht vorzuschlagen, einen Teil des nördlichen Reichtums in den Süden zu transferieren, überzeugt niemanden.
Also insofern ist der Gedanke schon, auf die öffentliche Diskussion einzuwirken. Ich bin da nie sehr optimistisch, inwiefern das gelingen kann, aber der Anspruch ist auf jeden Fall da.
KFG: Vielen Dank, Peter!